Der Hofladen im urbanen Quartier

Sie schiessen wie Pilze aus dem Boden: die Rüedus. Wer in und um Bern unterwegs ist, bekommt sie regelmässig zu Gesicht, die hölzernen Container mit der sympathischen Namensgebung. Doch was steckt hinter Rüedu? Und was hat es mit der Crowdinvestment-Kampagne auf sich? CEO Jürg Burri lässt hinter die Kulissen blicken.

Unter einem Rüedu versteht man eine grobschlächtige Person mit derben Manieren und grober Sprache. Mit Lebensmitteln, geschweige denn Nachhaltigkeit, wird das Wort nicht in Verbindung gebracht. Zumindest bis vor vier Jahren. Dann wurde ein Quartierladen unter dieser Bezeichnung im Wyler in Bern eröffnet. Heute stehen in und um Bern 26 dieser Container, die meisten davon in eleganter Holzoptik mit der spielerischen Beschriftung «Rüedu». Und wenn man mittlerweile in Bern von Rüedu spricht, meinen die meisten tatsächlich dieses innovative Hofladen-Konzept. Kein Abendessen und der Coop hat schon geschlossen? «I ga no schnäu i Rüedu». Um drei Uhr morgens auf dem Nachhauseweg vom Ausgang und noch spontan Lust auf ein Sandwich? Der Rüedu ist da. 24/7, von überall gut erreichbar und immer frisch, nachhaltig und vor allem fair für die Produzenten.

Hinter Rüedu stecken rund 30 Personen, an deren Spitze die beiden Gründer Jürg Burri und Tom Winter. Burri, gebürtiger und Heimkehr-Belper, hat als CEO von Rüedu die Fäden in der Hand. Was er für ein Mensch ist? «Offen, interessiert an Neuem, unkonventionell und motiviert – obwohl man da wohl eher andere fragen müsste», meint er augenzwinkernd. Sein Lebenslauf umfasst Stationen in der Strategieberatung, im Finanzsektor und in der Verpackungsindustrie. In letzterer reiste er um die halbe Welt, erlebte wenige Meter neben dem Tahrir-Platz in Kairo den Start der ägyptischen Revolution 2011. Darauf folgte ein Sabbatical. «Ich habe mir lange überlegt, was ich Neues ausprobieren könnte – also ging ich in die Obstindustrie.» Dort wurde auch der Samen für Rüedu gepflanzt.




In der Welt von Äpfeln und Birnen war Burri verantwortlich für eine breite Palette an Aufgaben, vom Feld bis zum schlussendlichen Retail. Dort erlebte er hautnah mit, dass die Obstproduzenten unter den strengen Normen des Grosshandels litten. «Es gab bei bestimmten Apfelsorten beispielsweise die Vorgabe, dass diese mindestens 40 % Deckfarbe Rot haben müssen, und dieser Rotton ist dann auch noch genau definiert. Werden diese Normen nicht eingehalten, werden die Äpfel zweit- oder drittklassig und im schlimmsten Fall sogar weggeworfen – obwohl es essbare Lebensmittel sind», erklärt Burri. Dieses verschwenderische Vorgehen wird noch dadurch bestärkt, dass Produzenten für nicht-erstklassige Äpfel massiv weniger Geld erhalten – und die Kosten im Falle einer Entsorgung durch die Grosshändler sogar selbst tragen müssen. In dieser kafkaesken Situation ist das Bedürfnis der Produzenten gross, mehr Direktvermarktung und -verkauf zu machen. «Das tut den Produzenten weh. Warum muss ein genetisch kleinwüchsiger Apfel ein Kaliber von beispielsweise 70 Millimeter haben? Warum kann der nicht auch 65 Millimeter breit sein? Diese Regeln führen dazu, dass man bei bestimmten Produkten bis zu 40 % Ausschuss hat», kommentiert Burri.

Und genau deshalb wurde Rüedu gegründet – um den Produzenten und Landwirten einen direkteren Verkauf mit sinnvollen Normen zu ermöglichen. Das Konzept für den Hofladen im Quartier wurde während vier Jahren ausgearbeitet, Mitte 2020 wurde der erste Laden eröffnet. Die Idee lässt sich rasch zusammenfassen: 24/7 geöffnet, mit Self-Check-out, in verstellbaren Containern und mit coolen, lokalen Produkten direkt vom Produzenten. Der letzte Punkt ist dabei besonders wichtig: Wer bei Rüedu einkauft, weiss, dass das Geld aus seinem Portemonnaie direkt zu Produzenten in der Umgebung geht. Diese Information erhält man auch auf der Beschriftung des Füchte- und Gemüsesortiments – ob man nun einen Apfel, einen Salat oder Erdbeeren kauft, es steht eine exakte Kilometerangabe der Distanz vom Produzenten zum Verteilzentrum drauf. Meistens ist diese zweistellig.




Mittlerweile gibt es in und um Bern 26 Rüedus, zwei weitere werden bald eröffnet. Neben Bern existieren sechs weitere Filialen in der Region Zürich sowie die White-Label-Lösung Ur-Store. Mit letzterer will Rüedu Produzenten noch mehr Möglichkeiten zum Direktverkauf bieten: «Wir erhielten regelmässig Anfragen, wie wir das gemacht haben mit dem Self-Check-out, dem Türzugang, der Videoüberwachung etc. Also haben wir begonnen, unser System modular anderen Produzenten anzubieten. Ur-Store wird mittlerweile bereits bei rund zehn Hofläden oder Käsereien umgesetzt.»

Der Start des Projektes war jedoch alles andere als einfach. «In der Nacht vor der ersten Eröffnung im Wyler war ich bis um 3 Uhr morgens am Stammdaten im System erfassen. Meine grösste Angst war, dass wir bei der Eröffnung eine Schlange mit hundert Leuten haben und die Kasse funktioniert nicht», erinnert sich Burri schmunzelnd. Glücklicherweise traf dies nicht ein – das heisst aber nicht, dass der Start nur positiv verlief. «In der ersten Woche im Wyler wurden uns die Schaufenster besprayt, wir wurden nicht mit offenen Armen empfangen. ‘Wir wollen kein digitales Gemüse’, stand da geschrieben», erzählt Burri. Rüedu hat polarisiert und löste, insbesondere bei der Konkurrenz, eine gewisse Angst aus: «Es ist halt so: Niemand hat auf uns gewartet, und plötzlich waren wir da. Das bedeutet natürlich Veränderung, und Veränderung löst Unsicherheit aus und Unsicherheit kann zu Angst führen.» Burri hingegen sieht die Konkurrenz als bereichernd. Wenn die Kundschaft an einem Ort im Quartier ein grosses Angebot hat, vom Quartierladen über den Rüedu bis hin zum Handwerker ums Eck, habe das eine gewisse Magnetwirkung. «Irgendjemandem wird man aber zwangsläufig auf die Füsse treten – einige finden den Rüedu schrecklich, andere wiederum super. Wir haben durch unsere Vorteile wie die Öffnungszeiten oder das lokale Produktsortiment unsere Marktnische gefunden, und können mit Rüedu einen Nutzen erbringen. Und genau darum geht es ja.»

Weiterentwicklung durch Crowdinvestment

In den vergangenen Wochen las man öfters in den Medien von Rüedu, stets in Bezug mit der Mitte Februar lancierten Crowdinvestment-Kampagne. Crowdinvesting, das ist eine Weiterentwicklung des Crowdfundings, also einer Finanzierung durch die breite Bevölkerung. Beim Crowdinvestment tätigt man, wie der Name schon verrät, keine Spende, sondern eine Investition. Bei Rüedu geschieht das in Form von Aktien. «Es war schon immer mein Ziel, der Community mit Rüedu auch etwas zurückzugeben. Wir haben mittlerweile über 200 Aktionäre, denen jetzt ein Teil von Rüedu gehört – das ist grossartig!», meint Burri. Die Kampagne ist gut gestartet und hat grossen Zuspruch aus der Gesellschaft erhalten. «Rüedu besteht aus Produzenten, Partnern und Kunden – die sind es, die unser Konzept ausmachen. Und ohne sie gäbe es Rüedu nicht. Deshalb wollen wir sie stärker in unser System integrieren.» Wieso Rüedu überhaupt Aktionäre sucht? Wachstum. Die Container allein sind nicht günstig, diese benötigen aber auch noch Kameras, Beleuchtung, Kassen, ein Tüschliesssystem und eine App – und manchmal muss auch erst ein Fundament gebaut werden, bevor ein Rüedu an einem bestimmten Standort stehen kann. Bis so ein Hofladen im Quartier steht, kostet es also einiges. «Vieles ist bereits finanziert, aber um unser Ausbauziel zu erreichen, benötigen wir weitere Investitionen», so Burri.

Nachhaltige, lokale und faire Produkte sind im Trend. Wer also Teil werden möchte eines Anbieters davon: https://ruedu.ch/aktiemaerit/. Oder direkt im Laden auf der Kasse die Nummer 222 eintippen.